2,5 mal- Zwang #no.16

Ich sitze in meinem Auto und fahre um die 100km/h. Die Sonne scheint und ich befinde mich absolut in der vorgegebenen Geschwindigkeitsbegrenzung dieser Landstraße. Ich atme tief ein und aus. Nach der Arbeit werde ich zu meinem Freund fahren und mir eine Auszeit von meinem Alltag gönnen, zumindest für einen Tag. Ich lasse meine Gedanken schweifen, höre die Musik meines Autoradios ganz dumpf und denke an das was ich heute morgen alles geschafft habe: Wohnung geputzt, gesaugt, Katze verpflegt, Müll runter gebracht und eher zur Arbeit gefahren damit ich ein paar Plusstunden sammle. Aber stopp. Ich spüre wie es mich durchfließt. Von der einen zur anderen Sekunde höre ich keine Musik mehr und sehe auch das Sonnenlicht nicht. Mein Herz rast. In meiner Brust steigt Panik auf: Habe ich die Tür abgeschlossen?

In der Vergangenheit gab es mal gute und mal schlechte Tage was die Sache mit meiner Haustür betrifft. Oftmals kam ich zu spät zu Verabredungen weil ich nach halben Weg umdrehen und nochmal checken musste ob meine Wohnungstür verschlossen war. Meine größte Angst dabei: meine Katze. Ich fürchte mich so sehr davor ohne sie zu sein, dass ich Angst davor habe sie könnte sich eines Tages durch einen Türschlitz quetschen und fort sein. Für immer.
Aber auch abgesehen von der Katze ist es für mich eine furchtbare Vorstellung wenn ich nur daran denke, dass meine Wohnungstür- in meinen Gedanken steht sie speerangelweit geöffnet, nicht nur einen Spalt breit- zugänglich für jeden wäre. Meine Ängste, Wünsche, Intimitäten, Träume, mein Leben wäre so präsentiert, dass jeder X- beliebige Nachbar in die Wohnung und auch in mich hinein blicken und unkontrolliert etwas berühren könnte was ihm nicht gehört.

Mir wird heiß. Mein Puls steigt so, dass ich beführten muss, mein Herz könnte mir aus meiner Brust springen. In meinem Kopf krame ich nach der Erinnerung wie die Tür heute ins Schloss gefallen ist und ich den Schlüssel 2,5 Mal gedreht habe aber sie fehlt. Jede Erinnerung an die verschlossene Tür könnte auch von jeden anderen Tag in diesem Jahr stammen. Ich versuche ruhig zu bleiben aber mein Gedankenkarussel dreht sich immer weiter. Die Vorstellung meine Katze würde verschwinden, meine Wohnung wäre zugänglich für jede Menge Leute... mir wird übel. Und ich beschließe wieder einen Schritt zurück zu machen. Seit ungefähr einem 3/4 Jahr habe ich nicht mehr umgedreht wenn ich fast auf der Arbeit war. Ich hatte mir in der letzten Zeit erlaubt unten von der Haustür oder der Einfahrt noch einmal zur Wohnungstür zu gehen und an ihr zu rütteln- aber eigentlich war die "ich kehre um"-Phase überwunden, dachte ich. Es gab Tage an denen ich fühlte ob die Zwänge stärker oder schwächen waren. An diesen Tagen nahm ich mir bewusst Zeit die Rituale vor dem Verlassen meiner Wohnung durchzuführen: Balkontür zu? Herd aus? Backofen aus? Kühlschrank zu? und schließlich: Wohnungstür zu und abgeschlossen?
Wenn ich mich an diesen Tagen genau darauf konzentrierte war es leichter mit selbst bei der später aufkommenden Panik zu sagen "ich erinnere mich, die Tür war zu und du hast mehrfach daran gezogen bevor du gegangen bist!" Aber es gab Tage an denen das nicht funktioniert. Tage an denen ich mir selbst einrede nicht sicher genug zu sein oder meine Erinnerung mit einem anderen Tag zu verwechseln solange bis ich in tiefste Unsicherheit verfalle und am liebsten weinend zurück fliegen würde.

Auf dem Weg zurück nach Hause fühlte ich mich so elendig wie lange nicht mehr. Ich selbst konnte mich nicht zusammen reißen, ich hatte es nicht geschafft mich zu überreden einfach weiter zu fahren. Am liebsten hätte ich mich im Bett verkrochen. Meine Plusstunden waren dahin. Meine Fortschritte fühlten sich nach Lügen an und ich mich ganz klein. Als ich ankam war es wie immer: die Tür war zu und abgeschlossen- 2,5 mal, wie immer.

"L."

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