Vom Hinsehen, Verstecken und Davonlaufen #no.2

Als ich 2016 meine Diagnose bekam war alles plötzlich ganz klar. Ich hatte mich schon immer Gefühl wie ein nasser Schwamm den man in Wasser aufweicht bis er vermodert. Alles Leid, jede Träne, jede Trauer von anderen habe ich in mir eingesogen und gut gebettet. Es war wie ein Springbrunnen, der, sobald es dunkel wurde, anfing zu sprudeln und immer wieder raus und wieder in mich hinein zu fließen. Anstatt mich tropfenweise zu erlösen prasselte immer mehr strömender Regen auf meinen Körper und meinen Geist. Ich wusste schon früh, dass ich anders war. (Sagt das eigentlich jeder von sich?) Nein im Ernst. Ich hatte den Eindruck ich würde mehr denken als andere. Darüber wie ich mich fühle, wie andere sich fühlen, was gerecht und was nicht so gerecht ist, was schlimmes passiert auf der Welt und welche Möglichkeiten es gäbe, dass eine bestimmte gute Situation doch noch dramatisch werden könnte. So wieso war dieses Gedankenkreiseln immer schon voll mein Ding. Ich konnte mich stundenlang verlieren, auf dem Bett liegend, an die Decke starrend in Gedanken und Reflektion und manchmal im Nichts. Ich nannte es immer die schwarzen Tiefs, wenn ich stundenlang, mehr weg getreten als lebendig an meine Zimmerdecke starrte und die Zeit verflog. Was mich in diese Misere brachte, wusste ich bis dahin nie. Ich hielt es einfach aus.
Depressionen also. Das Kind hatte einen Namen. All die Selbstzweifel, jedes "Jetzt muss ich mich aber mal zusammen reißen", jede Krise, jedes Verlieren im tiefen, düsteren Gedankensumpf machte plötzlich Sinn und ich wusste: ich bin nicht Schuld. Depression ist keine Entscheidung die ich irgendwann im Suff getroffen habe. Sie ist keine keine falsche Bestellung weil man im Kaufrausch mal wieder übertreiben hat, dann vergisst die Retoure anzumelden und ungenutzte Dinge im Schrank versauern. Sie hat mich heimgesucht, in so vielen Nächten meiner Kindheit und Jugend. Sie war immer da, wenn ich nicht damit rechnete. Sie hat mich verfolgt, bis in jede Ecke meiner Stadt. Sie sprang mir erbarmungslos ins Genick in schwachen Zeiten und klopft an meine Tür, selbst wenn es mir gerade besser ging. Mit der Diagnose endete ein Leidensweg, auf dem ich viele Jahre lief. Immer mit der Frage in meinem viel zu jungen Geist, wie lang ein Mensch diese Fülle von Schmerz ertragen müsse und was ich getan habe um so vom Leben gegeiselt zu werden. Ich habe nicht aufgegeben und tue es bis heute nicht. Depression ist ein Schatten, der mich verfolgt. Ich konnte rennen, so schnell rennen, sie blieb trotzdem an mir geheftet wie eine schwere, zweite Haut aus Blei. Heute muss ich nicht mehr davon laufen, ich trage uns beide.

"L."

(Thomas S. Lutter (*1962), Lyriker und Musiker)


Kommentare

  1. Das könnte eine Beschreibung meiner Gefühle sein, und der Zeit die ich damals mit den gleichen Dingen verbracht habe. 1:1
    Bin auch depressiv mit Angst und panikstörung

    AntwortenLöschen
  2. Danke für dein Kommentar. Es ist schön zu hören, dass du meine Gefühle "kennst". Ich hoffe du kommst klar.

    AntwortenLöschen

Kommentar veröffentlichen