Funktionieren bis zum Wochenende #no.6

Wenn ich morgens aufwache, ist oft noch etwas Zeit, bis mein Wecker klingelt. Ich könnte aufstehen
und lernen oder mich einfach nur mit einer Tasse Tee und einem Buch wieder in mein Bett setzen.
Das würde aber voraussetzen, dass ich von irgendwoher Kraft finden müsste, um mich aus meinem
Bett zu begeben. Die Kraft ist leider oft nicht in Reichweite. Ich bleibe also liegen und schon fangen
all die Selbstzweifel in meinem Kopf an sich in immer schnelleren Teufelskreisen zu drehen bis mir
schwindelig wird. Die Zeit vergeht und ich bin schon völlig geschafft, bevor der Tag überhaupt richtig
angefangen hat. Meine Glieder sind schwer, jede kleinste Bewegung ist anstrengend. Irgendwann
kommt der Zeitpunkt, an dem es heißt: »Wenn du jetzt nicht aufstehst, schaffst du es nicht mehr
pünktlich zur Arbeit oder zur Uni.« Ist mir doch egal, ist meine Antwort darauf, aber ich quäle mich
trotzdem aus dem Bett, ziehe mich an und verlasse das Haus.
Sobald ich das Haus verlassen habe, funktioniere ich. Ich arbeite, gehe zur Uni, hetze von einem
Termin zum nächsten und lasse nicht eine Vorlesung ausfallen. An manchen Tagen gehe ich abends
noch zum Sport, an anderen sitze ich bis spät abends an meinem Schreibtisch und arbeite die
Vorlesungen nach. Ich funktioniere. Überspiele, wie viel Kraft mich das alles kostet, damit bloß
niemand merkt, wie es mir wirklich geht. Dass niemand auch nur vermuten kann, dass in meinem
Kopf die Gedanken ganz laut schreien: »Ich kann nicht mehr!« und »Ich weiß nicht, wie lange ich das
noch durchhalte.«
Man könnte meinen, ich wäre froh, wenn ich mich abends dann wieder in mein Bett verkriechen
kann. Meistens ist es aber so, dass ich mich eher davor fürchte. Denn wenn ich zur Ruhe komme und
keine Ablenkung mehr habe, ist das der Moment, in dem ich von einem Schwall an negativen
Gedanken überschwemmt werde. Besonders schwierig ist es am Wochenende, das bei mir schon am
Freitag beginnt, weil ich da weder zur Uni noch zur Arbeit gehen muss. Drei Tage ohne Struktur.
Ohne eine Aufgabe. Große Unzufriedenheit - ich weiß nichts mit mir anzufangen, kann nur grübeln
und mich immer schlechter fühlen. »Dann nimm dir doch einfach was vor«, könnte man sagen. Wenn
das so einfach wäre...

"Mutsammlerin"

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